Menschlichkeit im Mittelpunkt
Jeden Monat präsentieren wir Ihnen eine neue Ausgabe unserer Reportage „Best Practice – Innovatioun deelen“, bei der wir im ganzen Land unterwegs sind, um die inspirierendsten neuen Methoden und fortschrittlichsten Projekte der Luxemburger Senior*innen- und Pflegeeinrichtungen zu entdecken.
In diesem Monat stellen wir Ihnen eine Institution vor, die vor Kurzem eine wirklich außergewöhnliche Auszeichnung erhalten hat: Das Humanitude-Label. Sieben Jahre lang wurde mit Hingabe und Fleiß auf diesen Moment hingearbeitet und heute ist das Beleser CIPA „Résidence op der Waassertrap“ stolz, diese Auszeichnung als bisher erste und einzige Pflegeinstitution des Landes sowie als erste internationale Institution tragen zu dürfen.
Humanitude ist ein französisches Label, das für Menschlichkeit und einen respektvollen Umgang mit Senior*innen steht. Und genau das sind die Werte, die die Philosophie der „Résidence op der Waassertrap“ ausmachen. Da braucht man nur mal die Bewohner*innen zu fragen. So war denn die Entscheidung auch schnell getroffen, eine Kandidatur einzureichen und den Prozess zu starten.
Ein langer Weg, der sich gelohnt hat
Über die folgenden Jahre fanden dann unzählige Schulungen in den Bereichen Pflege, Restauration und Soziales Leben im CIPA in Beles statt, um so das gesamte Personal den Leitlinien des Humanitude-Labels entsprechend auszubilden.
Zu Beginn jeden Jahres erhalten alle Label-Anwärter*innen einen Aktionsplan, der nach und nach umgesetzt werden muss und am Ende, wenn alle Schulungen gemacht und alle Kriterien erfüllt sind, besuchen externe Prüfer*innen das Haus und kontrollieren zwei Tage lang – von der Früh- bis zur Nachtschicht –, ob alle Humanitude-Bedingungen zu jedem Moment des Tages erfüllt sind.
Im Juli 2022 war es dann soweit. Die „Résidence op der Waassertrap“ hatte endlich sein Label erhalten. Und das sogar mit Auszeichung, die extra für dieses Haus kreiert wurde.
„Die sieben Jahre waren nicht ohne. Es ist viel Arbeit, das Humanitude-Label zu erhalten. Man muss 1000 Kriterien erfüllen. Aber es geht hier um die Bewohner*innen“, erklärt Delia Tornabe von der „Résidence op der Waassertrap“. Und die stehen hier zu jedem Moment im Mittelpunkt.
Das gesamte Programm von Humanitude basiert auf der Einhaltung und Umsetzung seiner fünf Grundprinzipien. Die ersten beiden lauten „zéro soin de force, sans abandon de soin“ (zu Deutsch „Keine Zwangspflege, ohne sie jedoch zu vernachlässigen“) und „respect de la singularité et de l’intimité“ („Respekt vor der Individualität und der Privatsphäre“).
„Hier geht es zum Beispiel ganz einfach darum, dass man anklopft, bevor man das Zimmer eines*r Bewohners*in betritt und sich jeden Tag neu vorstellt,“ erklärt Delia Tornabe, „oder dass man die Bewohner*innen morgens ganz sachte aufweckt.“ Ein großer Fokus liegt außerdem darauf, die älteren Menschen zu motivieren, so viel und so lange wie möglich selbstständig zu leben und zu entscheiden. Das Personal ist jedoch immer da, um mal eine Hand anzupacken, wenn es notwendig ist.
„Die sieben Jahre waren nicht ohne. Es ist viel Arbeit, das Humanitude-Label zu erhalten. Man muss 1000 Kriterien erfüllen. Aber es geht hier um die Bewohner*innen.“ Delia Tornabe, CIPA „Résidence op der Waassertrap“.
Ein weiteres Leitprinzip lautet „ouverture vers l’extérieur“ („Offenheit nach außen“) und bezieht sich auf die Tatsache, dass das CIPA ein vollkommen offenes Haus ist. Die Senior*innen sind stets frei, das Haus zu verlassen, um Familie und Freund*innen zu besuchen oder ganz einfach spazieren oder einkaufen zu gehen. Umgekehrt sind externe Besucher*innen auch jederzeit im CIPA willkommen. „Wir organisieren viele größere und kleinere Ausflüge, wie zum Beispiel eine Reise an die Belgische Küste im vergangenen September.“ Daran haben die Bewohner*innen immer wieder große Freude.
Auch Tiere sind stets willkommen. Zum Inventar des Hauses gehört eine Katze und ein paar kleinere und größere Hunde, die regelmäßig zu Besuch sind.
Vertikalität wird großgeschrieben
Das nächste Prinzip „Vivre et mourir debout“ („Aufrecht leben und sterben“) genießt einen sehr hohen Stellenwert in Beles, denn es ist unheimlich wichtig, dass die Senior*innen in Bewegung bleiben. Ein 20-minütiger Spaziergang am Tag verringert bereits das Risiko bettlägerig zu werden. Aus diesem Grund geben die Pfleger*innen des CIPA sehr viel Acht darauf, die Bewohner*innen tagtäglich zu motivieren, innerhalb des Gebäudes oder auch in einer der hauseigenen Parkanlagen spazieren zu gehen.
Das letzte Prinzip dreht sich voll und ganz um das Pflegeheim als „Lieu de vie, lieu d’envies“ („Ort des Lebens, Ort der Wünsche“). Um diesem unentbehrlichen Grundsatz gerecht zu werden, ist das CIPA-Personal ständig darum bemüht, den Senior*innen Freude am Leben zu verschaffen. „Ja, es ist die letzte Lebensetappe. Aber wer sagt denn, dass diese Etappe langweilig sein soll?“, erklärt es Delia Tornabe sehr passend.
In der „Résidence op der Waassertrap“ werden regelmäßig Feste und Aktivitäten und sogar ein sogenanntes Lebensprojekt organisiert, bei dem den Senior*innen ein lebenslanger Herzenswunsch – so gut es denn geht – erfüllt wird. Zum Wohlfühlfaktor gehört in diesem Sinne aber auch ein reichhaltiges Gastronomieangebot. Und genau in diesem Punkt weiß die „Résidence op der Waassertrap“ ganz besonders zu punkten. Im hauseigenen Restaurant „Kaschthaus“ gibt es jeden Tag drei abwechslungsreiche Menüs zur Auswahl. Doch damit nicht genug: Denn vor wenigen Wochen – am 21. Januar 2023 um genau zu sein – hat im CIPA-Komplex ein weiteres Restaurant mit ganz besonderem Konzept seine Türen geöffnet.
Ein Ort der Begegnung
Die Rede ist von „Madame Witzeg“. Dieses klassische à-la-carte-Restaurant wurde von der Trisomie21 asbl und der eigens dafür gegründeten ConcepT21 sàrl ins Leben gerufen und steht nicht nur den Bewohner*innen der Pflegeeinrichtung offen, sondern absolut jedem, der Lust hat, vorbeizukommen. Neben seiner abwechslungsreichen Mittagskarte und nachmittäglichem Kaffee und Kuchen bietet das Restaurant eine fast ganztägig geöffnete, schalldicht abgetrennte Kegelbahn, die es zum idealen Ort für gesellige Zusammenkünfte macht.
Das Besondere an „Madame Witzeg“ ist, dass das Team mehr als zur Hälfte aus Menschen zusammengesetzt ist, die Trisomie21 haben. Für sie ist die Arbeit bei „Madame Witzeg“ eine hervorragende Möglichkeit, einer Beschäftigung nachzugehen, bei der sie selbstständig arbeiten und sich in die Gesellschaft integrieren können. Das Restaurant ermöglicht ihnen wertvolle Arbeitserfahrung, soziale Interaktion und die Chance, neue und wichtige Lebenskompetenzen zu entwickeln.
„Menschen mit Trisomie21 sind einfach nette und freundliche Leute und das passt mit den älteren Menschen sehr gut zusammen.“ Steven Kukawka, Küchenchef bei „Madame Witzeg“
Doch „Madame Witzeg“ bringt nicht nur Vorteile für diese Menschen mit sich. Auch für die Senior*innen bietet das Restaurant eine Möglichkeit, der Monotonie des Alltags zu entfliehen. Nun können sie mit ihren Freund*innen und Familienmitglieder*innen in einer lebendigen und einladenden Atmosphäre köstliche Mahlzeiten genießen, sich mit den jungen Restaurantmitarbeiter*innen austauschen oder Gesellschaftsspiele spielen. Daneben bietet die Kegelbahn ihnen die Chance, sich körperlich zu betätigen und so ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu verbessern.
Zurzeit ist „Madame Witzeg“ von 12 bis 15 Uhr für warme Speisen und von 15 bis 17 für Kaffee und Kuchen geöffnet. Die angebotenen Gerichte, auch „Witzegkeeten“ genannt, sind mit einer Art Tapas vergleichbar. Diese kleinen Portionen erlauben es den Gästen, viele verschiedene Gerichte zu probieren und außerdem den Essensabfall auf ein Minimum zu reduzieren. Die Karte wechselt alle paar Wochen den Jahreszeiten entsprechend und hat auch regelmäßig Luxemburger Spezialitäten zu bieten.
„Nun hoffen wir, dass wir noch ein paar Arbeitskräfte hinzubekommen, damit wir vielleicht 1-2 Abende in der Woche öffnen können“, erklärt Küchenchef Steven Kukawka, der von Anfang an dabei war. Nun wird erst mal Werbung gemacht, um die Leute aus der Region auf das Restaurant und das Konzept aufmerksam zu machen. „Wir hoffen einfach, dass die Leute gerne hier ins Restaurant kommen wegen der Atmosphäre, wegen dem Essen, wegen dem Personal, wegen allem…“, ergänzt Kukawka.
Doch wie kam dieses Projekt eigentlich zustande? Na, durch einen glücklichen Zufall. Das CIPA besitzt dieses leerstehende Restaurantlokal schon seit vielen Jahren. An diesem Standort haben bereits ein paar andere Restaurants versucht, sich zu etablieren, jedoch leider ohne Erfolg. Der Grund? Gästemangel. „Doch ,Madame Witzeg‘ hat da wohl eine andere Anziehungskraft“, freut sich Delia Tornabe des CIPA über die positiven Erfahrungen ihrer neuen Untermieter. Es läuft auf jeden Fall gut, denn mittlerweile ist das Restaurant jeden Tag ausgebucht.
Covid-19 als einzige Challenge
Die einzige Schwierigkeit, mit der das Projekt bisher konfrontiert war, war die Covid-19-Pandemie. „Wir mussten die Küche umbauen, damit sie unseren Verhältnissen entspricht“, erklärt Steven Kukawka. Und das hat sich in dieser Zeit enorm verzögert. Ohne die Pandemie und die vielen anderen Probleme in der ganzen Welt hätte man bereits viel früher aufmachen können.
Sobald das Restaurant und sein Team sich nun vollkommen etabliert hat, möchten das CIPA und „Madame Witzeg“ einige gemeinsame Projekte ausarbeiten, die beiden Seiten zugute kommen. Die Rede war zum Beispiel schon von regelmäßigen Spieleabenden oder ähnlichen Aktivitäten. „Menschen mit Trisomie21 sind einfach nette und freundliche Leute und das passt mit den älteren Menschen sehr gut zusammen.“ Auf jeden Fall gibt’s schon einige Stammkund*innen aus dem CIPA, stellt der Küchenchef fest. Und so soll es nun auch weitergehen.
„Madame Witzeg“ ist auf jeden Fall mehr als nur ein Restaurant. Es ist ein einzigartiger und inklusiver Ort, der sowohl auf die Bedürfnisse von Senior*innen als auch von Menschen mit Trisomie21 eingeht. Durch das Angebot von Beschäftigungsmöglichkeiten, die Förderung sozialer Interaktion und die Bereitstellung einer unterhaltsamen und einladenden Umgebung bringt es allen Gäst*innen, Besucher*innen und Mitarbeiter*innen eine Menge Freude. Wir wünschen dieser Initiative sowie dem gesamtem CIPA-Komplex eine erfolgreiche Zukunft.
Arbeiten Sie auch im Pflegesektor und haben eine ganz besondere Initiative oder ein innovatives Projekt, das Sie mit den Menschen und vor allem Ihren Kolleg*innen in ganz Luxemburg teilen möchten? Dann kontaktieren Sie das GERO-Team unter der E-Mail-Adresse info@gero.lu. Wir kommen gerne bei Ihnen vorbei und präsentieren Ihre inspirierenden Projekte im GERO-Newsletter.