Jeden Monat präsentieren wir Ihnen eine neue Ausgabe unserer Reportage „Best Practice – Innovatioun deelen“, bei der wir im ganzen Land unterwegs sind, um die inspirierendsten neuen Methoden und fortschrittlichsten Projekte der Luxemburger Senior*innen- und Pflegeeinrichtungen zu entdecken.
In diesem Monat möchten wir Ihnen das Konzept von Sense Alive vorstellen, das viel mehr ist als nur ein einfaches Projekt: Es handelt sich um eine wahre Philosophie, die sowohl die Betreuung von Senioren als auch von allen anderen Menschen, die eine positive Selbstwahrnehmung anstreben, neu definiert. Dank des Engagements der ALIVEPlus a.s.b.l. und der innovativen Vision seiner Gründer*innen ist das Sense Alive Konzept als eine Lösung zur Förderung des Wohlbefindens und der positiven Selbstwahrnehmung im Laufe des Lebens entstanden.
Dieses ehrgeizige Projekt ist das Ergebnis eines glücklichen Zufalls und der Motivation zweier Menschen: dem Direktor von ALIVEPlus, Gaston Altmeisch, und der diplomierten psychosozialen Kosmetikerin (PSE) Sabrina Simoes. Nachdem er das auf häusliche Pflege spezialisierte Unternehmen AlivePlus s.a. gegründet hatte, erkannte der ausgebildete Krankenpfleger Gaston Altmeisch, der über ein Diplom in Psychoonkologie, einen Master in klinischer Wissenschaft in der Gesundheitspflege und einen Master in Gerontologie verfügt, schnell, dass Pflege für ihn vor allem bedeutet, Menschen zu begleiten, und dass diese Aufgabe wenig mit kommerziellen Tätigkeiten kompatibel ist. Folglich wurde im Jahr 2015 die ALIVEPlus a.s.b.l. gegründet.
Schon bald darauf lernte er Sabrina Simoes kennen, die – wie er selbst sagt – auf exakt der gleichen Wellenlänge liegt, was das Verständnis des menschlichen Wohlbefindens angeht. Dieses Treffen war der Ausgangspunkt für eine fruchtbare Zusammenarbeit und die Geburtsstunde von Sense Alive. Da die Initiative nicht subventioniert wird, ist das Geschäftsmodell von externen Kooperationen wie der mit ALIVEplus a.s.b.l. abhängig.
Das Konzept ist ganz klar auf das Wohlbefinden ausgerichtet und integriert verschiedenste Techniken wie kosmetische Behandlungen, Make-up, Entspannung, Massage, Meditation und vieles mehr. Der Schwerpunkt liegt allerdings darauf, den Sorgen der Menschen aufmerksam zuzuhören und sie zu ermutigen, sich offen mitzuteilen.
„Wir greifen Bereiche unterschiedlichster Wissenschaften auf“, erklärt Gaston Altmeisch. „Die PSE ist keine strikte Disziplin. Sie stützt sich auf die allgemeinen Humanwissenschaften, Psychologie, Anthropologie, Sozial- und Pflegewissenschaft, Medizin usw.“
Somit geht die sozio-ästhetische Pflege weit über die einfache Kabinenbehandlung hinaus. „Ziel ist es, mit Hilfe der Kosmetik über den Körper und die Berührung das Innere der Person zu berühren, um sie dazu zu bringen, bestimmte Dinge wahrzunehmen, selbständiger zu werden und den Alterungsprozess positiver zu erleben“, erläutert die PSE Sabrina Simoes. „Unser Zusammentreffen war ein entscheidender Moment, da wir die gleiche Vision teilen und schnell feststellten, dass wir eine gemeinsame Antwort haben. So beschlossen wir, unser eigenes Konzept der sozio-ästhetischen Pflege zu entwickeln und dabei all die folgenden Aspekte zu berücksichtigen: den psychologischen, den sozialen, den biologischen, den kulturellen und auch den spirituellen.“
Heute ist Gaston Altmeisch für den theoretischen Teil und die Konzeptualisierung in seinem Fachgebiet der Gerontologie verantwortlich. Indem er sein Wissen einfließen lässt, ermöglicht er Sabrina Simoes, ihre Tools entsprechend weiterzuentwickeln. Sie repräsentiert dabei den praktischen Aspekt des Projekts und gemeinsam fügen die beiden die verschiedenen Elemente so zusammen, dass ein einzigartiges Konzept entsteht.
„Die PSE erlaubt es den Menschen, genau das zu tun, was sie tun möchten, ohne sich dabei auf einen gesellschaftlichen Rahmen beschränken zu müssen“, erklärt Gaston Altmeisch. Sense Alive bietet Senior*innen einen Raum mit speziell entwickelten Aktivitäten, Schönheits-Workshops, Entspannungsübungen und Austauschmöglichkeiten, der ihnen ein Gefühl der Wertschätzung und Erfüllung vermitteln.
Eine personalisierte Erfahrung
Das Team von Sense Alive hat festgestellt, dass viele Krankenpfleger*innen das Leiden ihrer Patient*innen nicht immer wahrnehmen bzw. berücksichtigen, sei es aufgrund fehlender Kenntnisse und Kompetenzen oder einfach, weil sie es zeitlich nicht schaffen, sich auf jede*n Einzelne*n intensiv einzulassen. Für die Betroffenen selbst ist dies jedoch von zentraler Bedeutung und sie fühlen sich oftmals im Stich gelassen. Darüber hinaus gibt es im Pflegebereich einen ständigen Personalwechsel, sodass es kaum möglich ist, eine echte Beziehung zu den Klient*innen zu entwickeln.
Sabrina Simoes hingegen legt großen Wert darauf, ein Vertrauensverhältnis zu den Menschen aufzubauen. Sie konzipiert personenbezogene Betreuungsvorschläge, die es den Patient*innen ermöglichen, selbst zu bestimmen, welche Maßnahmen sie durchführen möchten, um wieder das Gefühl zu haben, eine gewisse Kontrolle und Autonomie in ihrem Behandlungsverlauf zu haben.
Während der Sitzungen passt sie sich daher deren Wünschen und Befindlichkeit an. Zunächst unterhält sie sich mit der jeweiligen Person, um herauszufinden, was sie erwartet und wie weit sie bereit ist, bei der Behandlung zu gehen. In den meisten Fällen beginnt sie die Sitzung mit einer Handpflege, um durch diesen ersten Körperkontakt gleich zu Beginn ein Vertrauensverhältnis zu initiieren.
Im Anschluss geht sie schrittweise auf die Wünsche der Person ein und empfiehlt unterschiedliche Optionen, wie z. B. Massagen oder die Behandlung von Hautproblemen mit den entsprechenden Pflegeprodukten. Hat eine Person körperliche Barrieren und möchte nicht berührt werden, so respektiert Sabrina Simoes diesen Wunsch und schlägt stattdessen Aktivitäten wie Meditation oder Entspannung vor, wobei sie stets eine gewisse Distanz wahrt. Obwohl sie ein Grundprotokoll hat, verlässt sie sich beim Ablauf der Sitzung hauptsächlich auf ihre Intuition und die jeweiligen Wünsche der Menschen. „Sabrina verfügt über eine ,Wonderbox‘, die sie benutzt, um die Person dazu zu bringen, sich selbst besser wahrzunehmen und sich zu öffnen. Das ist immer der erste Schritt“, erklärt Gaston Altmeisch.
Das Team ist bei seinen Interventionen flexibel und passt seinen Einsatzort den jeweiligen Umständen an. Sie besuchen die Menschen zu Hause, arbeiten von ihrem Zentrum in Esch-sur-Alzette aus oder besuchen Unternehmen und Einrichtungen wie z. B. Seniorenheime.
Ein multidisziplinäres und leidenschaftliches Expertennetzwerk
Wenn ein*e Patient*in die Kompetenzen der PSE übersteigt, wird er oder sie an Psycholog*innen, Psychiater*innen oder andere Partner*innen weiterverwiesen, die eine für den jeweiligen Fall angemessene Hilfe anbieten können. Derzeit verfügt Sense Alive über ein festes Team von zwei Personen, die sich jederzeit auf die Unterstützung eines multidisziplinären Netzwerks verlassen können, das aus zahlreichen medizinischen und nichtmedizinischen Fachleuten zusammengesetzt ist.
In diesem Sinne arbeitet Sense Alive u.a. mit der Tätowiererin Sandra Kientz von „Lakies Engrave“ zusammen. Sie hat sich auf das Tätowieren von Brustwarzen in 3D spezialisiert, wodurch sie Frauen nach einer Mastektomie eine neue Lebensqualität und ein gesteigertes Selbstwertgefühl verschaffen möchte. Für sie ist diese Tätigkeit eine Herzensangelegenheit, da ihre eigene Mutter selbst mit einer ähnlichen Situation zu kämpfen hatte. Darüber hinaus bietet sie semipermanentes Make-up an, eine Technik, die sich in der Vergangenheit bereits als wirkungsvolles Werkzeug erwiesen hat.
Vor einiger Zeit hatte Sense Alive eine Anfrage bezüglich einer Dame in einer sehr schwierigen Situation bekommen: Die Pfleger*innen hatten große Mühe, sie aus ihrer sozialen Isolation herauszuholen, da sie sich in einer fast chronischen depressiven Phase befand. Im Rahmen einer gerontologischen Beratung unterhielt sich Gaston Altmeisch eingehend mit ihr, um sie besser verstehen zu können. Schließlich löste sich die Blockade und sie erzählte ihm Folgendes: „Wissen Sie, ich bin alt, ich bin zu nichts mehr nütze und kann auch nichts mehr sehen. Als ich jung war, liebte ich es, mich zu schminken, aber jetzt kann ich es nicht mehr.“ In diesem Moment wurde Gaston Altmeisch klar, dass es nicht die Depression war, die diese Reaktion hervorgerufen hatte, sondern der Verlust der Selbständigkeit und der Selbstwahrnehmung. Es war nun also notwendig, wirksam an der Ursache des Problems zu arbeiten. Und genau in solchen Situationen kommt die PSE und ihr Team wie gerufen.
Mit semipermanenten Make-up-Techniken konnte Sandra Kientz dieser Frau eine Lösung anbieten, die es ihr ermöglicht, jeden Tag mühe- und makellos geschminkt zu sein, um sich wieder wohl in ihrer eigenen Haut zu fühlen und die Liebe sowie die Akzeptanz ihrer selbst wieder zu erlangen.
Gaston Altmeisch stellt fest, dass es in unserer Umgebung zahlreiche Menschen gibt, die sich ignoriert oder vernachlässigt fühlen. Leider gibt es derzeit keine Plattform, die es älteren Menschen ermöglicht, sich offen über den erlebten Prozess des Älterwerdens auszutauschen. In der Tat wird das Älterwerden in unserer Gesellschaft häufig banalisiert. „Bei Sense Alive versuchen wir herauszufinden, was im Inneren einer Person vor sich geht“, erklärt er. „Wir haben alle unsere Fassade… die Gesellschaft verlangt das von uns. Aber nicht bei der PSE! Bei der PSE hat man die Freiheit, genau die Person zu sein, die man sein möchte. Es gibt keine Grenzen und niemanden, der über einen urteilt.“
Dieser Ansatz zielt darauf ab, die fünf Säulen der Identität einer jeden Person gründlich zu erforschen. Das Team untersucht, welche der Säulen brüchig sind und somit einen Einfluss auf die Identität der Person haben können. Danach wird versucht, diese angeschlagenen Säulen zu reparieren, um die Identität der Person wieder aufzubauen und zu stärken sowie die folgenden Fragen zu beantworten: Wer bin ich in meinem Körper? Wer bin ich in der Gesellschaft?
Sobald diese Grundlagen geschaffen sind, konzentriert sich das Team auf die Förderung der Selbstwahrnehmung, des Selbstvertrauens und des Selbstwertgefühls. Dafür werden die persönlichen Ressourcen identifiziert, die aufgrund gesellschaftlicher Zwänge oftmals verborgen und nicht wahrgenommen werden. Das Team bemüht sich nun, diese internen Ressourcen freizusetzen, damit die Person ihre Autonomie entwickeln und mit Hilfe von maßgeschneiderten Strategien Selbstbestimmung erreichen kann.
Hindernisse überwinden
Dennoch steht das Konzept auch vor einigen Herausforderungen. Gaston Altmeisch erläutert, dass die größte darin besteht, die sozio-ästhetische Pflege als eigenständige Disziplin zu etablieren und Anerkennung zu finden. Das größte Hindernis für Sense Alive ist in diesem Zusammenhang der Mangel an finanzieller Unterstützung. Die Dienstleistungen sind für interessierte Kunden kostenpflichtig, doch die Initiative wird bisher nicht von den verschiedenen Behörden anerkannt. Für Gaston Altmeisch ist dies jedoch unerlässlich, sei es in Form einer kompletten oder teilweisen Rückerstattung oder einer anderen Art der finanziellen Unterstützung.
Sabrina Simoes ist überzeugt, dass die Behörden noch ein wenig Zeit brauchen, um spirituelle Aktivitäten und Projekte in vollem Umfang anzuerkennen. Glücklicherweise werden die Menschen immer aufgeschlossener und sehnen sich nach neuen Erfahrungen. Der Trend geht zunehmend in diese Richtung. „Langsam aber sicher“, sagt sie.
Derzeit sucht Sense Alive nach Einrichtungen wie Alten- und Pflegeheimen, die daran interessiert sind, mehr über die Arbeit und die Auswirkungen einer PSE zu erfahren und den Service auch in ihren Einrichtungen anzubieten. Wenn Sie also Interesse haben, wenden Sie sich gerne an Sense Alive, damit dieses innovative Konzept weiter wachsen kann.
Arbeiten Sie auch im Pflegesektor und haben eine ganz besondere Initiative oder ein innovatives Projekt, das Sie mit den Menschen und vor allem Ihren Kolleg*innen in ganz Luxemburg teilen möchten? Dann kontaktieren Sie das GERO-Team unter der E-Mail-Adresse info@gero.lu. Wir kommen gerne bei Ihnen vorbei und präsentieren Ihre inspirierenden Projekte im GERO-Newsletter.