Intergenerationeller Austausch und handwerkliches Know-how
Jeden Monat präsentieren wir Ihnen eine neue Ausgabe unserer Reportage „Best Practice – Innovatioun deelen“, bei der wir im ganzen Land unterwegs sind, um die inspirierendsten neuen Methoden und fortschrittlichsten Projekte der Luxemburger Senior*innen- und Pflegeeinrichtungen zu entdecken.
Die erste Institution, die wir Ihnen in diesem Rahmen präsentieren möchten, ist der Zitha-Komplex in Consdorf. Denn hier, mitten im malerischen Müllerthal – umrandet von idyllischen Landschaften – befindet sich eine Pflegeeinrichtung, die sich aus mehr als nur einem Grund von anderen abhebt.
Zitha Consdorf besteht nämlich aus zwei Gebäuden, die sich auf unterschiedliche Patient*innen-Zielgruppen spezialisiert haben. Auf der einen Seite gibt es eine klassisch-gemütliche und modern ausgestattete Senior*innen-Einrichtung, die ihren Bewohner*innen eine komfortable und sichere Umgebung sowie eine kompetente Pflege bietet. Auf der anderen Seite beherbergt sie eine professionelle Struktur für psychiatrische Langzeitbetreuung für Menschen jeden Alters, die an diversen chronischen mentalen Erkrankungen – bspw. Schizophrenie, bipolare Störungen oder schwere Depressionen sowie einer Alkohol- oder Drogenvergangenheit – leiden. In diesem Gebäude steht weniger die Pflege und mehr die psychiatrische Betreuung der Bewohner*innen im Vordergrund. Zurzeit werden hier Menschen im Alter zwischen 35 und 66 Jahren behandelt.
Bereits im Jahr 2006 begann die Zitha-Institution mit dem Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique (CHNP) zusammenzuarbeiten und nahm nach und nach Korsakow-Patient*innen bei sich auf, die nicht unbedingt auf eine Betreuung in der Reha angewiesen waren. „Als dann im Jahr 2018 das alte Zitha-Gebäude renoviert wurde, stellte sich für uns die Frage, ob wir weiterhin nur Korsakow-Patient*innen aufnehmen, wie es die meisten anderen Senior*innen-Institutionen auch tun, oder ob wir einen Schritt weiter gehen sollten. Wir entschieden uns dazu, eine Lücke in Luxemburg zu schließen und ein ganzes Gebäude der psychiatrischen Langzeitbetreuung zu widmen“, erzählt Zitha-Direktor Jean-Paul Steinmetz. Anschließend wurde eine Konvention mit dem Gesundheitsministerium ausgearbeitet, um ausgebildetes therapeutisches Personal einstellen zu können, die ZithaUnit. Heute beherbergt der Zitha-Komplex insgesamt 44 Senior*innen und 44 psychiatrische Patient*innen.
Wo Generationen aufeinandertreffen
Zu den vielfältigen Aktivitäten und Programmen, die in der Struktur angeboten werden, gehört unter anderem eine seit mittlerweile zwei Jahren täglich stattfindende Holzwerkstatt. Und genau hier hat Zitha Consdorf ein ganz besonderes Projekt auf die Beine gestellt. Denn dieser Workshop bietet den Bewohner*innen nicht nur eine unterhaltsame und kreative Beschäftigung, sondern auch die Möglichkeit, generationsübergreifende Kontakte zu knüpfen. Seit Oktober 2021 besucht nämlich – im Rahmen des Projektes „Intergenerationelle Integration in das Holzatelier“ – einmal in der Woche der 12-jährige Tim* gemeinsam mit der Diplompädagogin Chantal Theisen aus der benachbarten Grundschule die Pflegeeinrichtung, um für jeweils zwei Stunden an den Werkstatt-Aktivitäten teilzunehmen. Tim leidet unter einer Entwicklungs- und Lernschwäche, die seine schulischen, aber auch sozialen Kompetenzen beeinträchtigt. „Bereits im Cycle 3 habe ich angefangen, mit ihm zu backen und zu kochen, und mir ist aufgefallen, dass er sich Dinge besser merken kann, wenn er praktisch arbeitet“, erklärt Chantal Theisen. Und genau aus diesem Grund ist die Holzwerkstatt eine ideale Maßnahme. Hier erlernt Tim wertvolle Lebenskompetenzen und entwickelt ein Gefühl des Respekts für das Wissen und die Erfahrung der älteren Menschen, während die Bewohner*innen die Gesellschaft des jungen Besuchers genießen.
Die Werkstatt wird von einem erfahrenen Schreiner geleitet und bietet praktische Lernerfahrungen für die Patient*innen und das Kind. Die Bewohner*innen haben die Möglichkeit, ihr Know-how in der Holzverarbeitung weiterzugeben, während Tim neue Ideen und Begeisterung in das Projekt einbringt. Gemeinsam realisieren sie eine Vielzahl von Projekten, wie z.B. die Anfertigung kleiner Möbelstücke und Dekorationsartikel. Im Sinne der Nachhaltigkeit stammt das Holz, das im Atelier verarbeitet wird, ausschließlich aus der Region Müllerthal.
Doch wie kam die Idee für dieses Projekt eigentlich zustande? Da die Grundschule und die Pflegeinstitution in direkter Nachbarschaft zueinander liegen, kamen die Zitha-Mitarbeiter*innen schnell mit dem Schulpersonal in Kontakt. „Nachdem die Bau- und Renovierungsarbeiten der beiden Zitha-Gebäude über viele Monate eine Menge Lärm verursacht hatten, entschieden wir uns dazu, der Gemeinde und auch der Schule in unserem Holzatelier angefertigte, kunstvolle Tannenbäume zu schenken. Auf eine gute Nachbarschaft!“, erzählt Jean-Paul Steinmetz. Nachdem sich das Schulpersonal also von der herausragenden Qualität der selbstgebauten Holzartikel überzeugen konnte, kam dann bald die Anfrage, ob die Schule nicht auch von diesem Holzatelier profitieren könne. So entstand die Idee, Tim einmal die Woche in eine Gruppe von 4-5 psychiatrischen Patient*innen im Holzatelier zu integrieren. Den Rest der Woche besucht er wie alle anderen Kinder auch die Consdorfer Grundschule.
„Ich hätte nicht gedacht, dass es so problemlos funktionieren würde. Es ist noch nie auf irgendeine Weise zu Konfrontationen gekommen. Man kriegt es nicht mal mehr mit, dass der Junge hier ist. Es ist zu einer Normalität geworden.“
Jean-Paul Steinmetz, Direktor bei Zitha Consdorf
Innerhalb nur eines Monats waren sämtliche administrativen sowie organisatorischen Hürden überwunden und schon konnte das Projekt beginnen. Die Diplompädagogin Chantal Theisen kümmerte sich in kürzester Zeit um die notwendigen Schritte und stellte das Projekt erst einmal bei der Schulverwaltung vor. Selbstverständlich musste auch das Einverständnis der Eltern eingeholt werden.
Da das Projekt im Kontext seiner schulischen Ausbildung stattfindet, ist Tim über die Schule versichert und seine Besuche in der Zitha-Struktur gelten als pädagogische Ausflüge, die er gemeinsam mit seiner Erzieherin unternimmt. „Ich würde diese Initiative nicht akzeptieren, wenn kein Personal der Schule ihn begleiten würde“, erklärt Direktor Jean-Paul Steinmetz, „auch wenn wir den Vorteil haben, dass unser Schreiner sehr sozial engagiert ist und in seinem Heimatsdorf im Rahmen von Musikaktivitäten bereits viel mit Jugendlichen zusammenarbeitet.“
So war es für Schreiner David Theisges gar keine Frage, das intergenerationelle Projekt bei sich im Atelier umzusetzen. Er informierte sich über mögliche Einschränkungen und arbeitete anschließend passende Projekte aus.
„Wir sind außerdem dabei, diese Initiative mit dem RSE-Label (Responsabilité Sociétale de l’Entreprise) versehen zu lassen. In diesem Rahmen hat unser Projekt sogar den zweiten Preis gewonnen, worauf wir sehr stolz sind“, erzählt Steinmetz. Ein Teil des Preisgeldes wurde anschließend dazu benutzt, um Tim seine eigene Werkzeugkiste zu bauen, die dann auch mit den notwendigen Werkzeugen gefüllt wurde. „Er hat mir kürzlich erzählt, dass sie sogar schon im Einsatz ist. Er benutzt sie nämlich, um ein kleines Häuschen für seinen Hund zu bauen“, freut sich Chantal Theisen.
Ein doppelter Mehrwert
Sowohl das Holzatelier an sich wie auch die Initiative des intergenerationellen Austausches dienen laut Jean-Paul Steinmetz der Entstigmatisierung der psychisch kranken Bewohner*innen der Zitha-Einrichtung. „Es hilft uns, den Patient*innen sagen zu können: ,Du kannst das! Du kannst mit einem Kind umgehen, ihm Dinge beibringen‘, und das ist eine enorme Bereicherung für sie“, erklärt Steinmetz. „Wir möchten den Menschen vernünftige Aktivitäten anbieten. Es bringt ihnen nichts, wenn wir Bingo mit ihnen spielen. Das ist keine zielführende Aktivität“, erklärt Steinmetz das Konzept der Zitha-Psychiatrie. Denn eines der wichtigsten Ziele der Struktur besteht darin, dass die Bewohner*innen die Möglichkeit haben, sich stetig weiterzuentwickeln.
„Es hilft uns, den Patient*innen sagen zu können: ,Du kannst das! Du kannst mit einem Kind umgehen, ihm Dinge beibringen‘, und das ist eine enorme Bereicherung für sie.“
Jean-Paul Steinmetz
„Für uns war es jedoch eigentlich zweitrangig, was unsere Institution von dieser Initiative haben könnte. Primär ging es uns um den Jungen und darum, dass er seine Kompetenzen entwickeln kann“, erzählt Jean-Paul Steinmetz. Denn hier lernt er, wie man mit Holz umgeht, wie man mit den Händen arbeitet, wie man einen Schraubenzieher benutzt und vieles mehr. Er kann schulische Kompetenzen ausbauen, indem er Erlerntes wie bspw. mathematisches Denken aber auch sprachliche Kompetenzen praktisch umsetzen kann. Auf diese Weise kann er später vielleicht einmal einen handwerklichen Beruf ausüben.
Auf der anderen Seite ist es natürlich auch ein willkommener Mehrwert, dass die Bewohner*innen durch diesen intergenerationellen Austausch ihr Selbstbild sowie ihr Selbstbewusstsein stärken und ausbauen. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so problemlos funktionieren würde. Es ist noch nie auf irgendeine Weise zu Konfrontationen gekommen. Man kriegt es nicht mal mehr mit, dass der Junge hier ist. Es ist zu einer Normalität geworden“, freut sich Steinmetz.
Die einzige schwierige Situation, mit der das Projekt bisher konfrontiert war, war als vor Kurzem eine der Bewohnerinnen, mit der Tim jede Woche in Kontakt war, plötzlich gestorben ist. „Ich dachte, Tim würde diese Situation schwieriger verkraften, als es im Endeffekt der Fall war. Ich habe ihn ein-, zweimal darauf angesprochen, und für ihn war einfach klar, dass ältere, kranke Menschen sterben können. Er konnte relativ einfach damit abschließen“, erklärt Chantal Theisen.
Ein absoluter Erfolg
Auf die Frage hin, ob er sich vorstellen könne, in Zukunft nochmals ein Kind in seiner Struktur aufzunehmen, antwortet Jean-Paul Steinmetz ohne zu zögern: „Absolut, ja! Es funktioniert so gut, dass ich mir auf jeden Fall vorstellen kann, später einmal ein anderes Kind bei uns zu integrieren.“ Dem schließt sich Chantal Theisen gemeinsam mit dem Lehrpersonal der Consdorfer Schule gerne an. Zurzeit wird sogar eine Konvention geplant, die den Rahmen dieser Initiative für die Zukunft festlegen soll.
Auch in der Geriatrie wäre solch ein Projekt denkbar. Hier muss man sich nur noch überlegen, mit welchem Ziel bzw. in welchem Bereich man ein Kind integrieren könnte. Vor der Pandemie hatte es bereits eine solche Initiative im Zitha Consdorf gegeben. Damals besuchten nämlich die Kinder der Consdorfer Maison Relais die Senioreneinrichtung ein- bis zweimal in der Woche, um mit den Bewohner*innen kleine Projekte wie Gesangsübungen oder kreative Aktivitäten durchzuführen. Diese Initiative wird nun langsam wieder gestartet.
Insgesamt ist die Zitha-Struktur Consdorf und vor allem ihre Holzwerkstatt ein wunderbares Beispiel dafür, wie generationsübergreifende Aktivitäten sowohl älteren Menschen als auch Kindern zugute kommen können, indem sie Sozialisation, Lernprozesse und gegenseitigen Respekt fördern. Das Projekt ist dementsprechend ein großer Erfolg und hoffentlich eine Inspiration für viele weitere Pflegeinstitutionen.
*Der Name wurde geändert.
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